Di, 06. Oktober 2020
„Einigkeit – Recht – Freiheit – Postmigrantische Perspektiven auf das Einheitsgefühl“
Der Bremer Rat für Integration hatte am Dienstag, 5. Oktober, zusammen mit
dem Julius-Leber-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Diskussionsrunde
„Einigkeit – Recht – Freiheit – Postmigrantische Perspektiven auf das
Einheitsgefühl“ eingeladen. 18 angemeldete Teilnehmer*innen durften im Haus
der Wissenschaften live mit dabei sein. Für alle anderen gab einen Live-Stream
auf Facebook und Youtube
Das Impulsreferat hielt der per Video zugeschaltete Prof. Dr. Aladin
El-Mafaalani (Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in
der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück, Autor). Die paradoxe
Botschaft seines kurzweiligen Vortrags lautete: Es scheint alles schlimmer, weil
langsam alles besser wird.
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani per Video zugeschaltet
Was er damit meint? Es gibt eine zunehmende Teilhabebewegung, El-Mafaalani
wählt die Metapher eines gemeinsamen Tisches. Mehr Menschen denn je hätten
daran bereits Platz genommen, einige säßen allerdings noch auf dem Boden, so
sein Bild. Es komme nun zu Verteilungskonflikten, da alle ein Stück vom Kuchen
wollen. „Jetzt werden grundsätzliche Dinge in Frage gestellt: Ist das
überhaupt der richtige Kuchen? Ist das Rezept überhaupt gut? Stimmt die
Tischordnung? Das sind unangenehme Fragen, es wird ungemütlich.“ Bei einigen
Menschen führten diese Fragen, die einem beschleunigten sozialen Wandel
geschuldet seien, zur Orientierungslosigkeit.
Doch war es früher besser, weil solche Fragen nicht gestellt wurden?
El-Mafaalani ist überzeugt, dass früher solche Fragen nicht gestellt wurden,
weil eine „Normalität“ unterstellt wurde. „Diese allerdings bestand aus
Zwängen und Unterdrückungsverhältnissen, deshalb wurde nicht in Frage
gestellt. Dann ist es natürlich gemütlich“, so der Soziologe.
Natürlich sei es schwierig, wenn alle Gleichwertigkeit fordern. Der Preis ist,
dass wir in der Gegenwart Kontroversen aushalten müssen. El-Mafaalani ist
überzeugt, dass es heute weniger Diskriminierung als früher gibt. „Aber erst
jetzt können wir sie formulieren, weil jetzt Leute mit am Tisch sitzen, die sie
erfahren haben.“ Und weil es weniger Diskriminierung gebe, falle die aus der
Regel und deshalb mehr ins Auge. Scheint also alles schlimmer, weil langsam
alles besser wird?
El-Mafaalanis Rat am Ende seines Referates: Gemeinsam an Zukunftsperspektiven zu
arbeiten. „Es ist nichts Einheitsstiftender, als über gemeinsame Themen,
Ziele und die gemeinsame Zukunft zu sprechen. Das kann Zusammenhalt
erzeugen.“
Was braucht es für ein besseres Miteinander in Bremen?
Dazu diskutierten Mohamed Amjahid (Journalist und Autor), Valentina Tuchel (SPD Fraktion in der Bremer Bürgerschaft), Libuse Cerna (Vorsitzende des Bremer Rates für Integration) und Prof. Dr. Michael Windzio vom neuen Forschungsinstitut für Gesellschaftlichen Zusammenhalt (FGZ) der Universität Bremen.
V.l.: Mohamed Amjahid, Valentina Tuchel, Libuse Cerna, Prof. Dr. Michael
Windzio
Konsens der von Simone Schnase (taz Bremen) moderierten Runde bestand darin,
dass so ein „Tisch“, an dem Diskussionen stattfinden, eine große Chance
birgt. „So ein inklusives Forum war vor 30, 40 Jahren undenkbar“, so Michael
Windzio. „Wenn wir Zukunftsziele verhandeln wollen, brauchen wir eine
gemeinsame Basis, wie etwa das Grundgesetz.“ Doch brauchen Rechtsnormen
Legitimität. „Das muss aus der Gesellschaft kommen, die sich diese Werte zu
eigen macht“, so Windzio. „Im Kern sind wir demokratisch, aber es gibt einen
militanten, gewalttätigen Rand“, warnt er.
Libuse Cerna regt an, mit Vielstimmigkeit eine neue Kultur zu schaffen.
Vielleicht neue Kriterien zu entwickeln, die zu der neuen Gesellschaft besser
passen? „Dann würden sich mehr Leute zugehörig fühlen. Die Kultur ist doch
eine lebendige Struktur.“
Mohamed Amjahid ist das alles zu optimistisch. Er gemahnt daran, die Geschichten
und Biografien von Demütigungen im Blick zu behalten. Die lassen sich nicht
wegreden. „Es gibt ganz klar ein Machtgefälle.“
Valentina Tuchel von der Bremer SPD verweist in diesem Zusammenhang auf die
personelle Zusammensetzung ihrer Fraktion, in der Menschen unterschiedlichster
Kulturen an einem Tisch sitzen. Und der Senat habe schon Zukunftsweisendes wie
den „Aktionsplan gegen Rassismus“ und das „Antidiskriminierungsbüro“
auf den Weg gebracht. „Dafür habe der BRI auch lange gekämpft“, wirft
Libuse Cerna ein. „Langfristig brauchen wir aber mehr als nur ein
Antidiskriminierungsbüro“, sagt Mohamed Amjahid. „Alles muss diverser
werden, in den Chefetagen der Unternehmen, in den Medien, im Rathaus.“
Die zwei Stunden reichten freilich nicht, dieses komplexe Thema ausführlich zu
verhandeln. Libuse Cernas Schlusswort verweist auf eine Fortsetzung des
Diskurses seitens des BRI: „Wir machen weiter. Wir wollen nicht nur ein Stück
vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei.“