Di, 23. Februar 2021
Präsenzunterricht ist extrem wichtig!
Der BRI hat Anfang 2021 in einem von der AG „Bildung“ aufgesetzten Offenen Brief die Haltung der Senatorin für Kinder und Bildung in Sachen Präsenzunterricht gelobt. Mit-Autor Dr. Christoph Fantini ist Mitglied im BRI und Dozent an der Bremer Universität im pädagogischen Fachbereich mit dem Schwerpunkt „Interkulturelle Bildung“.
Herr Fantini, ein kompletter Verzicht auf Präsenzunterricht habe eine unangemessen große Benachteiligung der Schüler*innen zur Folge, heißt es in der Stellungnahme des BRI. Gibt es zu möglichen Folgen bereits wissenschaftliche Untersuchungen?
Christoph Fantini: Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Untersuchungen in diesem Feld. Im medizinischen Bereich wurde festgestellt, dass Kinder insgesamt belastet sind und vor allem die jüngeren psychisch und körperlich beeinträchtigt werden. Der Grund für den Offenen Brief des BRI ist, dass man festgestellt hat, dass die Kinder, die räumlich beengt leben, kein eigenes Zimmer, keine gute technische Ausstattung haben, noch mal sehr viel stärker leiden. Sie haben keinen ruhigen Arbeitsplatz, um Dinge am PC nachvollziehen können, oft verfügen sie nicht über die geeigneten Geräte oder die nötige Netzverbindung. Diesen sozioökonomisch benachteiligten Kindern fehlt zudem oft die elterliche Unterstützung, bei dem, was dann plötzlich ganz intensiv in Schriftform auf sie einprasselt.
Das heißt, der Distanzunterricht trägt dazu bei, dass die soziale
Ungleichheit noch stärker forciert wird und Kindern Bildungschancen genommen
werden?
C. F.: Auf jeden Fall. Die soziale Schere, die unser Bildungssystem ja
sowieso leider immer noch ständig reproduziert, nämlich dass Kinder, die aus
Elternhäusern kommen, wo wenig Geld in der Kasse ist und wenig Bücher im Regal
stehen, und dann oft auch nicht Deutsch die Erstsprache zu Hause ist, sowieso
schlechtere Chancen in unserem Bildungssystem haben. Und das wird durch die
digitale Lehre noch einmal massiv gesteigert.
Vor allem wenn zu der sozioökonomischen Benachteiligung noch
Verständnisprobleme kommen, weil das Kind und die Eltern Deutsch nicht als
Erstsprache gelernt haben?
C. F.: Auf jeden Fall haben diese Kinder kaum Chancen beim digitalen
Homeschooling Schritt zu halten. Auch für viele Deutsch-Muttersprachler ist die
„Bildungsinstitutionshochsprache“ Deutsch keine vertraute Sprache. Da
differenziere ich jetzt gezielt zwischen „Bildungssprache“ und
„Umgangssprache“. Das sind zwei ganz unterschiedliche Welten. Und das
scheint nochmal eine ganz besondere Problematik bei der digitalen Lehre zu sein,
dass da oft bei den Unterrichtsmaterialien in die „Bildungssprachen-Kiste“
gegriffen wird. Im Präsenzunterricht würde eine gute Lehrerin den Stoff in
eigenen Worten erklären, weil sie weiß, dass es sonst keiner versteht. Bei der
schriftlichen Form fehlt diese Sensibilität manchmal.
Gibt es noch andere Aspekte von Schule, die beim digitalen
Homeschooling zu kurz kommen?
C. F.: Häufig wird in der Debatte übersehen, dass Schulen auch für
soziales Lernen zuständig sind. Gerade im letzten Frühjahr, als die Kinder
wieder zurück in die Schulen durften, haben die Lehrkräfte festgestellt – so
ähnlich wie nach den Sommerferien – dass die Kinder, die zuhause keine
optimalen Anregungsbedingungen haben, erst wieder an die Prozesse des sozialen
Lernens neu herangeführt werden müssen. Sie haben richtig Zeit verloren. Und
das trifft vor allem eine große Gruppe unter den Jungs viel heftiger als die
meisten Mädchen. Hier kommt also zusätzlich noch ein genderbezogener Nachteil
zum Tragen.
Was meinen Sie, wie wird es in Bremen weitergehen, wird die
Bildungsbehörde den eingeschlagenen Weg beibehalten können?
C. F.: Ich bin ja durchaus auch ein kritischer Zeitgenosse, aber in dem
Kontext bin ich wirklich stolz auf die Politik unserer Bildungssenatorin und
aller, die sie mit zu verantworten haben. Dass sie wirklich eingehalten haben,
was man im letzten Frühjahr bundesweit gesagt hat: Nie mehr dürfen die Kinder
darunter leiden, dass wir zu leichtfertig Schulen zumachen. Verlust sozialer
Beziehungen und latente Angst sind dauerhaft schädlich. Je mehr Normalität man
in den Schulen hinkriegt, desto besser.