Mi, 16. März 2022
Geflüchtete aus der Ukraine
Rechtslage und Einschätzungen zur Fluchtbewegung
Von Markus Saxinger
Koordination des Bremer und Bremerhavener IntegrationsNetz bin
Seit Wochen wird die Ukraine immer tiefer in die Schrecken des Krieges
gestoßen. Der von Russlands Machthaber Putin entfesselte Krieg treibt innerhalb
kürzester Zeit Millionen von Menschen in die Flucht. Nachdem der Krieg zu
Anfang noch über die Medien als Ereignis in weiter Ferne wahrgenommen wurde,
wird uns die Realität hier vor Ort ganz direkt über die ankommenden
Geflüchteten vor Augen geführt und erfordert unser Handeln. Weil bereits
vermehrt Anfragen bei diversen Beratungsstellen und auch bei mir persönlich
eintreffen, möchte ich gerne eine Einschätzung zur Rechtslage sowie praktische
Hinweise geben. Allerdings kann ich nur eine Momentaufnahme geben, zumal sich
die allgemeine Lage permanent ändert und das jeweilige Verwaltungshandeln nicht
immer klar beschieden ist, und die politischen Entscheidungen auf denen es
basiert, zum Teil erst noch getroffen werden müssen. Und leider befindet sich
die massenhafte Fluchtbewegung aus der Ukraine noch erst ganz am Anfang!
Der Krieg in der Ukraine hat zum ersten Mal in der Geschichte die EU dazu
bewogen, die Richtlinie 2001/55/EG zur „Gewährung
vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen“
anzuwenden. Dies wurde vom Rat der EU einstimmig beschlossen und birgt für die
Geflüchteten aus der Ukraine erhebliche aufenthaltsrechtliche Erleichterungen
– anders als dies bei den Kriegen in Syrien, Afghanistan oder Jemen der Fall
war.
Neben der ungehinderten Einreise in die EU besteht zudem die freie Wahl des
Ziellandes. Ein Dublin Verfahren, das Geflüchtete normalerweise zwingt, in dem
Land der EU zu bleiben, das als erstes betreten wird, kommt entsprechend nicht
zur Anwendung. Hier im Bundesgebiet haben seit dem 23.02.22 alle
aus der Ukraine Geflohenen – mit ukrainischem Pass oder mit
ukrainischen Aufenthaltspapieren – einen rechtmäßigen Aufenthalt
bis zum 23.05.22. Vom Stellen eines Asylantrags ist dringend abzuraten!
Dies gilt vorerst auch für nicht-ukrainische Staatsangehörige, die aus der
Ukraine geflohen sind.
Aus diesem rechtmäßigen Aufenthalt resultiert ein Anspruch auf
Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Wer privat Obhut
bekommen hat, kann beim Amt für soziale Dienste die entsprechenden Leistungen
beantragen. Wer eine Unterkunft braucht, bekommt diese bei der Zentralen
Aufnahmestelle für Asylbewerber und Flüchtlinge im Lande Bremen (ZASt). Diese
befindet sich in Bremen Nord in der Lindenstraße 110. Inzwischen wird ein neuer
Anlaufpunkt in der Messehalle 6 eröffnet, wo fortan auch Unterkünfte
bereitgestellt werden. Wer also mit dem Zug in Bremen ankommt, kann sich direkt
dorthin wenden. In Bremerhaven befindet sich der Anlaufpunkt im
‚Integrationszentrum‘ in der Wiener Str. 12.
Pflegebedürftige und Behinderte mit besonderen Bedarfen haben
die Möglichkeit diese, mit Verweis auf §6 AsylbLG „Zusätzliche
Leistungen“ beim Amt für Soziale Dienste zu beantragen.
Unbegleitete Minderjährige werden vom Jugendamt in Obhut
genommen und einem Träger der Jugendhilfe zugewiesen.
Zwar ermöglicht die jetzt geltende „Massenzustromrichtlinie“ die freie Wahl
des EU-Landes, aber innerhalb Deutschlands gibt es trotzdem die Möglichkeit der
Umverteilung. Bundesinnenministerin Faeser teilte bereits mit, dass eine
Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel auf die
Bundesländer künftig auch für die Geflüchteten aus der Ukraine
Anwendung finden soll. Ausgenommen davon wären lediglich Personen, die eine
private Aufnahme fänden. Von daher ist daher ist dringend zu klären wo jemand
eigentlich wohnen wird, bevor Schritte wie Einschulung, Deutschkurse,
Bildungsmaßnahmen, Beschäftigung etc. sinnvoll angegangen werden können.
Stichtag 23.05.22: Bis dahin müssten die Personen, die sich
auf die EU Richtlinie 2001/55/EG berufen, einen Antrag auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach §24 AufenthG bei der zuständigen
Ausländerbehörde (in Bremen Migrationsamt) stellen. Für ukrainische
Staatsangehörige, sowie für Personen, die in der Ukraine einen Schutzstatus
gewährt bekommen haben, dürfte dessen Erteilung eine Formsache sein. (bei
längerer Verfahrensdauer könnte evtl. eine Aufenthaltsfiktion erteilt
werden.)
Bei anderen Drittstaatsangehörigen stellt sich die Lage derzeit noch als
schwieriger einzuschätzen dar. Hier heißt es, dass Personen „die nicht in
der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre
Herkunftsregion zurückzukehren können“ ebenfalls ein Anrecht auf einen
Aufenthaltstitel nach §24 AufenthG haben. Die EU Mitgliedsstaaten haben hier
die Möglichkeit, die Kriterien entsprechend auszulegen und Zielgruppen zu
bestimmen. Es gilt also bei dieser Personengruppe (zu einem großen Teil
Studierende aus Ländern Afrikas und Südasiens) ein besonderes Augenmerk auf
eine gute Beratung zu legen. Bis zum 23.05. haben diese erst einmal einen
rechtmäßigen Aufenthalt und nicht wenige werden eine Rückkehr in ihre
Heimatländer einem dauerhaften Leben auf der Flucht vorziehen. Für diejenigen,
bei denen Rückkehr keine Option darstellt, ist ab dem 23.05. auch nicht
unmittelbar mit einer Abschiebung zu rechnen – im Zweifelsfall können
Rechtsmittel eingelegt werden – es gilt aber individuell Perspektiven zu
eruieren.
Die Aufenthaltserlaubnis nach §24 AufenthG ermöglicht den Besuch eines
Integrationskurses (eine Verpflichtung ist nicht vorgesehen)
und die Aufnahme einer Beschäftigung. Wer dies unmittelbar
vorhat, müsste entsprechend frühzeitig den Antrag beim Migrationsamt/der
Ausländerbehörde stellen. Ein Wechsel ins SGB II (zum Jobcenter) ist bislang
nicht vorgesehen, Sozialleistungen werden weiter von den Sozialämtern nach dem
AsylbLG gewährt. Die Agentur für Arbeit steht bei
Arbeitssuchendmeldung mit Beratung und dem SGB III Maßnahmenpaket zur
Verfügung.
Prioritäten:
- Die Neuankommenden brauchen schnell ein neues Zuhause. Der aus praktischen Gründen sicher nicht vermeidbare Zustand des Provisoriums muss schnell überwunden werden und eine Klarheit über den Wohnort schnell hergestellt werden. Flankierend braucht es niedrigschwellige Angebote für Beratung und Orientierung.
- Die Kinder und Jugendlichen brauchen einen Schulplatz und ggf. passende flankierende Angebote
- Professionelle psychologische Hilfe muss frühzeitig und niedrigschwellig
angeboten werden
Zugegebenermaßen sind diese Punkte sehr herausfordernd. Aber sie müssen zuvorderst angegangen werden. Erst dann sind weitergehende Angebote zur Integration sinnvoll. Als bin-Netzwerk stehen wir selbstverständlich auch allen Geflüchteten aus der Ukraine mit unseren Angeboten zur Verfügung, um ihnen möglichst nachhaltig einen Weg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, sobald sie dies wünschen.
Aber ich möchte davor warnen, die jüngste Fluchtbewegung als Gelegenheit aufzufassen, den hausgemachten Fachkräftemangel günstig zu beheben. Mit Sicherheit gibt es unter den jetzt fliehenden große Potentiale. Aber die Menschen haben jetzt i.d.R. andere Sorgen, als eine berufliche Karriere in Deutschland. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass es erforderlich ist, den Menschen auch die erforderliche Zeit zuzugestehen, um nachhaltig und qualifiziert in den Arbeitsmarkt zu kommen. Auf entsprechende Erfolge können wir zurückblicken. Überhastete und undurchdachte Schritte in Richtung Beschäftigung erweisen sich aber oft als wenig nachhaltig und nicht selten sogar für das Ziel einer qualifizierten Beschäftigungsaufnahme als kontraproduktiv. Vielmehr kann dies sogar in Arbeitsausbeutung münden, was sich bei vielen aus der Ukraine Geflüchteten zu einem Problem entwickeln könnte. Denn die Unkenntnis der hiesigen Strukturen und der Rechtslage kann leicht ausgenutzt werden. Siehe hier: https://www.tagesschau.de/investigativ/report-mainz/ukrainerinnen-pflege-101.html Soweit eine erste Einschätzung meinerseits zur Fluchtbewegung aus der Ukraine, die uns wohl noch länger beschäftigen und auch in Atem halten wird. Dabei ist es mir aber ein wichtiges Anliegen zu erwähnen, dass es neben dem Krieg gegen die Ukraine weiterhin die Kriege und die Unterdrückung in vielen Teilen der Welt gibt, mit Millionen von Flüchtlingen, die ein ähnliches Schicksal erleben mussten, wie diejenigen aus der Ukraine. Wir dürfen diese Menschen nicht vergessen! Und wir dürfen die Anstrengungen, bereits in den vergangenen Jahren zu uns Geflüchtete in Ausbildung, Beschäftigung und Teilhabe zu bringen jetzt nicht vernachlässigen. Vielmehr ist es jetzt wichtig, die entsprechenden Unterstützungsstrukturen zu stärken und die Angebote für alle neuankommenden auszuweiten.
FAQs zum Thema, beantwortet von der Sozialsenatorin
https://www.soziales.bremen.de/das-ressort/ukraine-108893